Ich bin Jane Doe
(Kapitel 1)
»Die Patientin leidet unter Amnesie. Sie kam vermutlich durch einen heftigen Schlag auf das Stirnbein zustande. Der Frontallappen ist teilweise beschädigt.« Im Gehen flog der lange, weiße Arztkittel der Doktorin hinter ihr her wie der Schleier einer Braut. Ihre Augen waren auf das Klemmbrett fixiert, welches sie in den Händen hielt und die unleserlichen Notizen ihres Kollegen bewahrte. »Desweiteren hat sie eine gravierende Verletzung am Rückgrat. Ein spitzer Gegenstand hat die Rückenmuskulatur am Lendenwirbel unterbrochen. Gelähmte Beine und zudem reichlich Abwehrverletzungen an Armen und Handflächen.« Obwohl die Frau nicht einmal den Kopf hob, wich sie geschickt den entgegenkommenden Fachkräften, Besuchern und Patienten des Grand Memorial Hospitals Washington aus.
Ihre Begleiterin hatte bisher aufmerksam zugehört. Mit eiligen Schritten lief sie neben der Ärztin her und passierte unzählige Gänge und Durchgangszimmer. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt. »Gibt es Anzeichen eines sexuellen Vergehens?« wollte sie wissen.
»Alle Tests sich negativ ausgefallen.« Die Ärztin, auf deren Namensschild Fields geschrieben stand, blieb schließlich stehen und sah zu ihrer Begleiterin auf. »Die Capitol Police hat ihren Zustand als einen Fall von schwerer Körperverletzung eingestuft. In der Ermittlung gibt es jedoch ein Problem - Die Patientin erinnert sich weder an ihren Namen noch trug sie irgendwelche Gegenstände mit sich, anhand derer man sie identifizieren könnte.«
»Eine Jane Doe.« stellte ihr Gegenüber fest.
»Richtig.« bestätigte Doktor Fields mit bedrückter Stimme.
»Und sie sind sicher, dass sie nach mir gefragt hat?«
»Ja Ma'am.« Die Ärztin nickte erneut. »Sie sind doch Doktor Temperance Brennan?«
Die ruhigen, grünlichen Augen ihrer Begleiterin blickten abwesend durch die saubere Glasscheibe zu ihrer Rechten, die einen Blick in das Krankenzimmer dahinter ermöglichten. Die rötlichen, gewellten Haare, die sie normalerweise hinter die Ohren gesteckt hatte, fielen ihr über die Schulter und ihre schmalen Augenbrauen waren tief ins Gesicht gezogen. »Ja« sagte sie stockend »Aber ich verstehe nicht -«
In dem Zimmer hinter der Scheibe stand ein einzelnes Bett. Darauf saß eine dunkelhaarige, junge Frau, die ihr den Rücken zugewandt hatte. Sie blickte durch das Fenster nach draußen, welches weit geöffnet war. Der heute so stürmische Wind brachte ihre Haare und die beigen Vorhänge zum Tanzen.
»- Ich kenne niemanden, der auf ihre Beschreibung passt.«
Doktor Fields blieb noch ein paar Herzschläge lang ratlos stehen, dann drückte sie die Türklinke hinunter und betrat das Zimmer.
»Guten Morgen, wie geht es Ihnen heute?« Die Ärztin lief freundlich lächelnd an der schweigenden Patientin vorbei und schloss sorgfältig das Fenster. »Ich habe Ihnen Besuch mitgebracht. Doktor Temperance Brennan vom Jeffersonian Institute ist hier.«
Die Braunhaarige hob schwach den Kopf und drehte sich zu ihrer Besucherin um. Diese stand zögerlich im Türrahmen und überlegte fieberhaft, ob sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte. Schließlich löste sie sich aus der Starre und machte ein paar Schritte in den Raum hinein.
»Hallo« sprach sie langsam und reichte der unbekannten Frau die Hand.
Während Dr. Brennan ihr hervorragendes Gedächtnis nach einer Erklärung für dieses Zusammentreffen durchsuchte, wandte sich Dr. Fields dem Gehen zu. Mit den Worten »Sie finden mich im Zimmer nebenan« verließ sie den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.
»Doktor Brennan« grüßte die Braunhaarige höflich ihren Besuch. Sie versteckte ihre Schmerzen und Angst hinter einem zaghaften Lächeln und suchte eine Weile lang nach den richtigen Worten. »Ich bin Jane Doe.« Ihr Blick schwenkte wieder zum Fenster und ein Schatten fiel über ihr bleiches Gesicht. »Zumindest steht das auf den Papieren, auf denen die Ärzte stündlich ihre Häkchen und Notizen machen.«
Dr. Brennan strich sich ihre kastanienbraunen Haare hinter die Ohren und ließ sich auf einem Stuhl neben dem Fenster nieder. Sie konnte sich nicht daran erinnern, die junge Frau zu kennen und wusste nicht so recht, was sie jetzt sagen oder tun sollte. Sie war weder ein Freund des Smalltalks, noch konnte sie gut mit anderen Menschen umgehen. So blieb sie vorerst schweigend sitzen und musterte die Frau von ihrem Platz aus.
So als wären sie kein Teil ihres Körpers, hingen die Beine der Unbekannten träge nach unten. Verbände an ihrem linken Arm, den Händen und Knien und ihre beinahe farblose Haut ließen sie zerbrechlich und kränklich wirken. Sie hatte sich mit allen Kräften gewehrt, bevor ihr jemand mit einem Messer die Fähigkeit zu Laufen und einem Schlag auf den Kopf alle Erinnerungen genommen hatte. Und aus irgendeinem Grund hatte sie dennoch den Weg zum Jeffersonian Institute gefunden und nach der Anthropologin Temperance Brennan gefragt.
»Können Sie« begann die junge Frau, räusperte sich und setzte erneut zu sprechen an »Können Sie vielleicht das Fenster wieder öffnen?« fragte sie in die Stille.
»Sicher.« antwortete die Rothaarige und richtete sich auf.
»Ich lausche so gerne dem Wind, wissen Sie? Er ist so wild und ruhig zur gleichen Zeit. Genauso wie die Stimmen in meinem Kopf.«
»Was für Stimmen?« wollte Dr. Brennan wissen und richtete sich auf.
Die Braunhaarige verzog das Gesicht. »Sie sagen ich sei verrückt.«
Die Doktorin war sich bewusst, dass man sich Schmerzen nicht vorstellen konnte. Aber sie war klug und kannte ich mit dem menschlichen Körper besser aus als keine Zweite im Großraum DC. Sie wusste also, wie sehr die junge Frau zu leiden hatte. Doch am schlimmsten war nicht der Schmerz.
»Sie sind nicht verrückt.« sprach sie mit kühler Stimme. »Sie leiden unter einer retrograden Amnesie, die in den meisten Fällen im Laufe einiger Tage verblasst.«
Eine Weile lang war es still in dem kleinen Zimmer. Dann trafen sich ihre Blicke wieder. »Wenn ich wählen könnte« begann die Unbekannte zögerlich. Ihre Stimme zitterte. »Will ich mich gar nicht erinnern.«
Ohne ein weiteres Wort schob sie die Verbände an ihrer rechten Hand ein Stück zur Seite und zog einen zusammengefalteten Papierfetzen hervor. Einen Moment lang überlegte sie schweigend, dann reichte sie der Doktorin den Zettel.
In dicken Großbuchstaben stand mit Filzstift eine Nachricht geschrieben.
Halt besser die Luft an, sonst überlebt keiner von euch beiden.
Credits
Fremde Kreationen: offene Haare (das ist die direkte Download-Seite, der tumblr-Blog-Eintrag wurde gelöscht), langes T-Shirt, Bettdecke, Vorhänge, Computer
Der Ort Jeffersonian Institute, sowie der Charakter Dr. Temperance Brennan stammen aus der amerikanischen Krimiserie Bones (2005, Produzenten u.a. Hart Hanson).
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