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Inhaltswarnung:
In diesem Kapitel werden erwähnt:
Kindesvernachlässigung,
der nicht gewaltsame
Tod naher Angehöriger,
nicht detailiert beschriebene
Schwangerschafts-/Geburtskomplikationen.
Bitte entscheide selbst, ob du dieses Kapitel lesen möchtest.
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Wir fanden den Weg zurück, ohne weitere Umwege. Während ich mich der Zubereitung unseres Essens widmete, laß Jou mir aus Eves-Feiertagspost vor. Immer wieder erstaunlich, wie viele verschiedene Themen sie in kurzer Zeit abhandeln kann.
Jou war weniger erstaunt, denn neugierig und so befand ich mich recht schnell in einer weiteren Frage-Antwort-Runde. Eine Anekdote hatte es ihm besonders angetan. Oder, besser ausgedrückt: wenig Verständnis und leichtes Misstrauen hervorgerufen. Jedenfalls schließe ich letzteres aus dem Ton, mit der er seine Frage hervorbrachte: "Du hast sie nicht wirklich in einem Karton vor die Tür gesetzt, oder?" Nun ja, doch, das habe ich tatsächlich, wie ich leicht beschämt eingestand. Jou war angemessen überrascht und wollte wissen, warum ich so etwas machen würde.
"Es war der Tag meiner Einschulung", berichtete ich ihm. "Eve fand es furchtbar, dass sie allein nach Hause zurückkehren sollte." - "Du nicht?" - "Nicht wirklich", gab ich zu. "Ich war eher aufgeregt und freute mich auf die Zeit dort." - "Hhm." Ich hob bedauernd die Schultern. "Sie war sehr anhänglich, was mich nicht wirklich gestört hat, obschon es etwas mühsam war, sie die ganze Zeit herumzutragen." - "Das war der Grund?" Nun war Jou eindeutig entsetzt. "Nein, es wurde nur lästig, als es Zeit wurde für die offiziellen Fotos." Ich schmunzelte vergnügt, als die Erinnerung wieder aufflammte, denn so im Nachhinein bin ich recht zufrieden mit meinem.
Damals jedoch nicht. "Hätte euer Vater nicht einschreiten können?" Jous Frage klang dermaßen unschuldig, dass es mir ungewohnt schwerfiel einzugestehen, dass mein Vater nicht mit von der Partie war.
Aus demselben Grund gibt es von Eve ebenfalls kein offizielles Einschulungsfoto. Sie hat es schlichtweg abgelehnt, sich als einzige ohne Elternteil ablichten zu lassen.
Wir haben es in den Osterferien nachgeholt, sozusagen. Ihr gefällt es und das ist die Hauptsache.
Doch ich schweife ab. "Johann hätte es gekonnt", antwortete ich, "war zu dem Zeitpunkt allerdings mit Formalitäten beschäftigt und nun ja, der Rest ist Geschichte, würde ich sagen." Jou war wenig angetan von den Begleitumständen des Tages, jedoch bereit das Thema zu wechseln. "Geht Eure Familie tatsächlich bis ins 13. Jahrhundert zurück?" Ich lächelte amüsiert und schüttelte den Kopf. "Eve behauptet es gern, doch spätes 17. trifft es eher." - "Und warum bist du dann nur der Dritte?" Nur? Das entlockte mir ein Lachen. "Großvater ist "nur" der zweitgeborene Sohn. Sein Bruder William ist kinderlos verstorben."
Jou stellte fest, da hätte er auch von alleine drauf können und wechselte erneut das Thema: "Warum bin ich dafür verantwortlich, dass du mit Jonah zusammengekommen bist?" Ich hätte vermutet, auch das läge auf der Hand, doch scheinbar war dem nicht so. "Ich habe keinen großen Hehl daraus gemacht, wie verschossen ich in dich war." Dieser Part meiner Antwort schien ihm durchaus zu gefallen. "Er hat es zum Anlass genommen, mich bei der erst besten Gelegenheit zu küssen." Jou riss die Augen auf.
"Eve hat uns dabei beobachtet und es unserer Köchin erzählt." Ein unglücklicher Versuch ihn auf andere Gedanken zu bringen. "Sie hat was?" Ich lächelte schief und machte eine etwas hilflose Geste mit meiner freien Hand. "Euch geoutet?" Ja, so könnte man es wohl nennen. Ich sah ihn um Verständnis bitten an: "Sie war erst elf und hat sich nichts dabei gedacht, Jou." Er verdrehte die Augen und schnaufte unwillig.
"Wie auch immer", nuschelte ich. "Nadja hat es Johann erzählt und er ... "- "Hatte wahrscheinlich nichts Besseres zu tun, als deinen Vater zu informieren", mokierte Jou sich. "Nein!" Er zuckte zusammen, zu Recht, wie ich eingestehen muss, denn mein Ton war absolut unangemessen. Nun, jedenfalls in Anbetracht seines derzeitigen Kenntnisstandes.
In dem Bestreben einer Konfrontation aus dem Weg zugehen, fuhr ich deutlich sanfter fort: "Er hat mich zur Seite genommen und ein äußerst einfühlsames Gespräch mit mir geführt." - "Kompetenz überschritten würde ich es nennen", zürnte Jou. "Reißt du mir jetzt der Ohren ab?" Seine Frage war ein Resultat meines Blickes, nehme ich an, denn ich schwieg, um meine Contenance zu wahren, wandte mich ab und trug unser Essen auf.
Er folgte mir zum Tisch und als wir saßen, erkundigte ich mich betont liebenswürdig: "Ich nehme an, Eve hat dir damit gedroht?" - "Indirekt", grummelte er. "Stößt du dich einmal mehr an unserem engen Verhältnis?" - "Nein", er schüttelte den Kopf. "Obwohl es wirklich ungewöhnlich ist." - "Nun ja", erwiderte ich leise. "Wir haben nur uns, weißt du." Ich musste schmunzeln, da ich unwillkürlich einen Zusatz gewählt hatte, der Eves Markenzeichen ist. Jou geriet erneut in Rage: "Und Johann und diese fürchterliche Nanny!"
"Nicht mehr", entgegnete ich ruhig. "Großmutter hat sie gefeuert." - "Beide?" - "Nein, das würde sie nicht wagen." Jou runzelte die Stirn. "Sie hat Lydia entlassen, gleich nachdem sie erfahren hat ...", ich brach ab und biss mir auf die Lippe. "Was du damals auf deinem Blog geschrieben hast?" Ich nickte. "Hat Eve ihr davon erzählt?" - "Nein." Jou erschrak sichtlich: "Sie liest deinen Blog?" - "Scheint so." Er wurde blass um die Nase, wie ich amüsiert zur Kenntnis nahm.
Wahrscheinlich, da seine Mutter ihn erst heute früh 'durchs Telefon gezogen hat', da sie der Meinung ist, wir seien derzeit etwas zu freizügig mit unsern Äußerungen. "Ja", erwiderte ich immer noch schmunzelnd. "Sie hat sie damals eingestellt, gleich nachdem ..." - "Sie hat sie eingestellt?" - "Ja." Jou zog die Augenbrauen zusammen. "Wäre das nicht die Aufgabe deiner Eltern gewesen?" Nun war ich es, der verwundert aus der Wäsche schaute. "Ich hatte keine Nanny, als meine Mutter noch lebte." - "Nicht?" Er ist in manchen Momenten tatsächlich verdammt niedlich, du hast das gut erkannt, liebste Schwester. Ich wette, dieser Satz gefällt dir. Die nächsten wohl auch. Wenngleich du eher verwundert sein wirst, gehe ich davon aus, du wirst sie feiern.
Allerdings hoffe ich sehr, du musst es diesmal nicht wieder ausbaden, denn Großmutter wird absolut nicht gefallen, was ich zu diesem Thema noch zu sagen hatte. Jou hat sich übrigens sehr bemüht mich davon abzuhalten, doch ich bin nicht in der Stimmung es auszulassen. Zumal unser näheres Umfeld durchaus im Bilde ist, nicht wahr?
Wenn man es genau nimmt, kommt sie bei der Geschichte noch am besten weg, um es einmal salopp auszudrücken. Immerhin hat sie, sobald unsere Großeltern von ihrer Weltreise zurückgekehrt waren, sofort dafür gesorgt, dass eine Nanny ins Haus kam. Eingedenk Jous Gesichtsausdruck, wird es den ein oder anderen wahrscheinlich schockieren zu erfahren, dass ihr Sohn dergleichen versäumte.
Ich stimme ihm zu, dass jeder anders bzw. auf seine eigene Art trauert. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass es viele Menschen gibt, die es in der Situation für angebracht erachten würden, ihre Kinder neun Monate den Dienstboten zu überlassen.
Wir verwenden dies Wort nicht. Ich benutze es nur, da Jou es regelrecht angewidert ausgespuckt hat. Nach meinem Dafürhalten eine absolut passende Reaktion, auf das Verhalten meines Erzeugers. Unsere Angestellten werden es mir nicht übel nehmen. Alle anderen bitte ich höflichst um Vergebung.
Vater zog es vor, sich direkt nach der Beerdigung, 60 Meilen von uns entfernt, in seine Arbeit zu vergraben. Daran hat sich bis heute wenig geändert, was zum einen unser enges Verhältnis zueinander, als auch zu Nadja und Johann erklären dürfte. Dass die Wahl auf Lydia fiel, war wahrscheinlich der Dringlichkeit geschuldet, zu unser aller Wohlergehen hat es jedoch wenig beigetragen. Entschuldige bitte Großmutter, dass dir die Umstände damals, den Urlaub im Nachhinein verleidet haben.
Falls sich, außer Jou, gerade noch jemand für meine Manieren bedanken möchte: Ich reiche entsprechende Komplimente gern an Johann weiter. Immerhin ist er die Vaterfigur, die uns durchs Leben begleitet.
An Nadja natürlich auch. Obschon ich mir nicht sicher bin, ob ich ihr verzeihen kann, dass sie sich in puncto Geburtstagstorte jedes Mal den Rührlöffel aus der Hand nehmen ließ.
Scherz beiseite: Für die Letzte bin ich äußerst dankbar und sie wird mich sicherlich die nächsten Jahre über die noch folgenden hinwegtrösten. Luv ya, sis.
Es passt zwar nicht in den zeitlichen Ablauf, doch zum Thema an sich: Natürlich gab und gibt es zwischen Eve und mir die gleichen geschwisterlichen Reibereien,
vor denen wohl keine Familie gefeit ist.
Wir vertragen uns jedoch sehr schnell wieder.
Nun, meistens jedenfalls ...
Obwohl wir von klein auf oft unsere Freunde zu Besuch hatten, sowohl an den Wochenenden,
als auch in den Ferien,
so haben wir doch sehr viel Zeit "allein" verbracht.
Diese näher zu beleuchten überlasse ich Eve, sie kann das eindeutig besser.
Wir konnten viele schöne Erinnerungen sammeln,
die sehr wertvoll für uns sind und wir freuen uns auf die, die noch vor uns liegen.
Doch wie bereits erwähnt, darüber sprachen Jou und ich erst später, kurz vor dem Einschlafen. Gestern Abend, oder um im Rhythmus zu bleiben: Vorhin war er schlichtweg entsetzt. Er stimmt mir da gerade zu, obschon ich eigentlich etwas anderes schreiben wollte.
Jou war, nach seiner Feststellung über das Trauern im allgemeinen, bei dem Thema geblieben. Er ist sehr einfühlsam, ein Wesenszug den ich sehr zu schätzen weiß, doch auch sehr analytisch im Denken. Dies führte zu der Feststellung: "Vielleicht war er deswegen dagegen, dass du ... den Flügel ... zu dir holst." Ich könnte ihn küssen für diese kleinen Pausen. In dem Augenblick war meine Reaktion jedoch ein andere, denn meine Antwort war ein rüdes: "Nein."
Gesehen habe ich es zwar nicht, doch ich gehe davon aus, dass er die Augen verdrehte. Er macht es immer, wenn er ungehalten durch die Nase schnauft. Woraufhin ich die Lippen zusammen presste und mich abwandte. Er schloss den Kühlschrank etwas heftiger als gewöhnlich und schwieg einen Moment. "Eve sagt, er gehört dir, also warum sollte er sonst dagegen sein?" - "Aus Prinzip." Erneut zu harsch und laut ihm begleitet von einem geradezu mörderischen Blick.
Den er ungerührt erwiderte, bevor er mit den Schultern zuckte und murmelte: "Setze Flügel auf Tabuliste."
Keine Ahnung, warum ausgerechnet zwei meiner liebsten Menschen, das Talent haben müssen, mich innerhalb von Sekunde aus der Reserve zu locken. Oder: ihnen mit dem nackten "Po" ins Gesicht zu springen, wie Jou es auszudrücken beliebt. Meine Schwester würde ihm da sicherlich ohne zu zögern zustimmen, denn Jou erschrak heftig, als ich zu ihm herumschnellte: "Hat Eve dasselbe gesagt?" - "Ja." - "Und du kannst es nicht dabei bewenden lassen?" - "Eddie!" Eine eindeutige Mahnung, die ich ignorierte, was er mir inzwischen verziehen hat.
"Ich versuche doch nur ..." Er holte tief Luft und erlangte seine Gelassenheit zurück. "Mir ein Bild von euch zu machen, Eddie. Das ist alles. Ihr seid so ... eure Familiendynamik ... Ich verstehe einfach nicht ..." Ich unterbrach ihn erneut unangemessen aggressiv: "Er hasst mich. Kann meinen Anblick kaum ertragen. Ist dir das, Antwort genug?"
Jou schüttelte den Kopf, eher fassungslos, denn verneinend, dennoch sollte er erfahren, warum: "Er gibt mir die Schuld am Tod meiner Mutter." Es schien, als könne er diese Information weder begreifen noch verstehen. Ich senkte den Kopf, als mir unter seinem Blick das Wasser in die Augen schoss. "Eddie", er nahm mein Gesicht in beide Hände, hob es sanft an und blickte mir fest in Augen: "Er tut dir unrecht und das weißt du." Weiß ich das?
Jou lächelte traurig, als ich schwieg. Seine Daumen streichelten die Tränen von meinen Wangen, dann zog er mich an sich. "Sie weiß es", flüsterte er. "Und tief in dir drinnen, da weißt du es auch."
Unser Gespräch verlagerte sich zwar als bald, setzte sich jedoch noch eine Weile fort. Eve würde jetzt sagen: Das beste daran sich die Augen aus dem Kopf zu heulen, ist der erholsame Schlaf danach. Ich beschränke mich auf die Tatsache, das es eine Nacht war, in der ich nicht von Alpträumen geplagt wurde.
Natürlich ist mir bewusst, dass meine Mutter nicht an "kalten Füssen" starb, weil ich mich damals hinaus in den Schnee schlich. Diese Saat wurde sehr früh gesät und es geklingt mir nicht den Keim zu ersticken.
Die Ursache ist eine völlig andere. Jou kennt sie, wir haben bereits zu Beginn unserer Beziehung kurz darüber gesprochen. Ich werde es nicht näher ausführen. möchte jedoch erwähnen: Meine Eltern waren vorgewarnt und sind das Risiko einer weiteren Schwangerschaft bewusst eingegangen. Ihr war es enorm wichtig und er hat sich diesem Wunsch gebeugt. Ich habe es erst viele Jahre später erfahren.
Selbst wenn Vater irgendwann zur Besinnung kommt, glaube ich nicht, dass ich ihm jemals verzeihen kann.
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